Plaudereien aus Schlettaus Vergangenheit von Paul Thomas.
(3. Fortsetzung.)
Mehr Poesie in die Gassen!
Ein wundersamer Schauer überläuft immer meinen Körper, wenn im Stadtgemeinderate der „Streit“ auf den Bebauungsplan sich lenkt, wenn es ein Flurstück zu verkaufen oder zu erwerben gilt, oder wenn etwa in einer Kaufsache die Stadt ihr Vorkaufsrecht geltend machen soll. Dann kommt unser Herr Bürgermeister mit den riesigen Bebauungsplänen angerückt, breitet sie auf den Tisch des Hauses aus und aller Augen tasten nun gierig auf den ungeheuren Blättern herum. – Dann geht eine Zukunftsmusik durch den Raum, Radiotöne von einer Station, die hundert, zwei-, dreihundert Jahre vor uns liegt, vernehmen wir ganz deutlich, wenn wir uns in die Linien der Bebauungspläne vertiefen, die großzügige, phantasiereiche Stadtpolitiker mit Stift und Farbe zu Papier gebracht haben. Dann steigt leise, aber immer dringlicher der Wunsch in meiner Seele auf, noch hundert, hundertfünfzig Jahre leben zu können, um die Stadt Schlettau in diese Entwicklung begleiten zu können, wie sie auf diesen Blättern ihr vorgezeichnet ist. Ach, wer das könnte, nur ein einziges Mal!
Nun höre! Mir ist es beschieden gewesen. Als ich jüngst wieder von einer Sitzung nach Hause schlenderte und mit mir die Gedanken heimwärts schleppte, die mich am „grünen Tisch“ beschäftigt hatten – da ist es gekommen, daß ich auch im Träume die Zukunftsbilder nicht los geworden bin. – – Ich hätte gewollt, Ihr wäret alle dabei gewesen – – ich erlebte das Vergnügen, unser Schlettau im Jahre 2025 besuchen zu können. Ja, was meint Ihr? Es war wieder großes Heimatfest angesagt gewesen. Ein ungeheurer Menschenstrom wälzte sich durch die Straßen, als ich nach langer, langer Abwesenheit der alten lieben Schläte wieder „Guten Tag“ sagen konnte. Ständig kamen neue Extrazüge aus allen Gegenden des Vaterlandes, die Amerikaner hatten in vier Zeppelinen das „Große Wasser“ überflogen, das Gehupe der Automobile wollte kein Ende nehmen, das war ein Grüßen und ein Händedrücken – mich kannte keiner mehr.
Einer vom Empfangsausschusse, der übrigens nicht in Frack und Zylinder, sondern in historischem Kostüm antrat, drückte mir eine Festordnung in die Hand. Etwas enttäuscht, daß ich so über die Schulter angesehen wurde und mich keiner mehr kennen wollte, schlug ich mich seitwärts, um ungestört das Festprogramm studieren zu können. Da kam ich aus dem Staunen nicht heraus. War ich eigentlich in der alten lieben Schläte, oder war ich wo anders hin geraten? Die Straßen, die z. B. der Festzug berühren sollte, waren mir fast alle fremd – – für den Augenblick wenigstens. Es kam mir aber sehr bald der Gedanke, daß man doch auch eine Neubenennung der Straßen vorgenommen haben könnte, um alte, überlebte, nichts mehr besagende Straßennamen durch solche zu ersetzen, die in Schlettau bodenständig sind, die etwas erzählen, die bedeutsame Erinnerungen an Schlettaus Vergangenheit festhalten, Straßennamen, bei deren Klange alte Schlettauer Gestalten wieder lebendig werden. Das wäre fürwahr ein prächtiger Fortschritt, den die Stadt gegangen. Ich fieberte vor Neugier und machte mich auf den Weg. Der Bahnhofsplatz, der bei der Ankunft unseres Extrazuges mit Neugierigen dicht gefüllt war, hatte sich geleert, und so konnte ich mich ungestört meinen Studien hingeben.
Dort, wo der Gamig- oder der Kantorweg von der Bahnhofstraße abzweigt, grüßt mich ein Straßenschild „Zum Segen Gottes“. Ich halte einen Augenblick meine Gedanken an. Dann aber fiel mir ein, daß ja unten an der Bahnhofstraße, wo der alte Kirchsteig sich von ihr verabschiedet, der letzte Schlettauer Bergstollen in die Erde getrieben wurde, die Fundgrube „Zum Segen Gottes“. Ich fand das recht anerkennenswert, daß die Stadtväter eine solche für die Stadtgeschichte doch gewiß bedeutsame Erinnerung in dem Strome der Zeit nicht untergehen lassen wollten und daß sie ein wirksames Mittel gefunden hatten, diese Erinnerung an die bergstädtische Glanzzeit des Ortes im Gedächtnis der Nachwelt zu verankern. Und klingt das „Segen Gottes“ nicht auch viel poetischer als der so matte, nichtssagende Name Bahnhofsstraße?
Das war der erste wohltuende Eindruck, den ich empfing, als ich die mir so gut bekannte Straße hineinpilgerte. Der erste Eindruck ist immer der entscheidende. An der Post, die, nebenbei gesagt, einen viel größeren Umfang angenommen hatte, las ich „Am Erbweg“.
Ich rieb mir vor Freude die Hände. Prächtig! Ich besann mich sehr bald, daß in der ungefähren Richtung der ehemaligen Schwarzenberger Straße ein alter Fahrweg im Mittelalter ging, den die Schlettauer im Jahre 1539 auf dem Heeggericht mit allem Nachdruck als einen ihnen zustehenden Erbweg verteidigen und sich gegen Verkürzung ihrer Weggerechtsame auflehnen. Ich fragte einen Schulbuben, der mir in den Weg lief, nach der Bedeutung des Straßennamens. Hei, der wußte sofort Bescheid und schickte sich an, mir einen großen Vortrag zu halten. Das freute mich umso mehr, daß die Straßennamen keine tote, amorphe Masse waren, sondern daß man Wert darauf zu legen schien, die Namen zu Erzählern zu machen, zu Dolmetschern einer verklungenen Zeit. So gewinnt die Stadtgeschichte wieder Gestalt und Leben, die Straßenzeilen werden Bücherzeilen, die Stadt- und Heimatgeschichte wird greifbar, wird ein Gegenstand des täglichen Interesses.
Betrat man den Bernhard Greifenhagenplatz, dessen Namen man erfreulicherweise zum dankbaren Gedächtnis an den verdienstvollen Ehrenbürger beibehalten hatte, so fiel der Blick sofort auf eine eindrucksvolle Litfaßsäule, die ungefähr an derselben Stelle stand, wo früher zu Jahrmarktszeiten gewöhnlich das Kasperletheater seinen Platz gefunden hatte. Ein „Bißchen Grün“ umgab die in den Formen des Stadtwappens gehaltene Anschlagtafel. Sie war mit allerhand Bekanntmachungen, Plakaten, Nachrichten und Gott weiß was beklebt. Ich war doch neugierig, zu erfahren, was im Städtel los war. Es war für mich eine Genugtuung, zu sehen, daß der alte Schlettauer Humor noch sein Wesen in der Stadt trieb. Da las ich z. B., daß der Nasenverein zu einer außerordentlichen Generalversammlung einlud. Gezeichnet war das Schriftstück Emil Martin Otto; die Heidebrüder hatten in der letzten Versammlung beschlossen, sich forthin Morgenbrüder zu nennen, weil sie bei ihren regelmäßigen Ausflügen doch niemals heite, sondern immer erst am nächsten Morgen nach Hause kamen. Der Geflügelzüchterverein brauchte für sein nächstes Schlachtfest eine einwandfreie Sau und einen zuverlässigen Wurstfettabgießer. Die Pommeranzia erließ einen Steckbrief hinter ihren ehemaligen Mitgliedern; die Riesengemüsezuchtanstalt von Manhenke in Münchhausen suchte für die Möhrenernte Arbeiter und Arbeiterinnen, die mit Hebebaum und Flaschenzug vertraut sind usw.
Aber auch die Häuser selbst hatten eine starke poetische Färbung angenommen. Vor allem waren die an die Häuser geklecksten Geschäftsfirmen bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Man war zu der alten schönen Sitte zurückgekehrt, durch Aushängeschilder über Tür oder Laden, durch Handwerkerzeichen – meist in kunstvoller Schlosserarbeit ausgeführt – den Zweck des Hauses zu verraten. Dadurch kam ein eigener Reiz in das Straßenbild, es kam Leben in die tote Häusermasse, man fühlte sich unwillkürlich nach Rothenburg o. d. Tauber versetzt, das bekanntlich zäh an dem alten Brauche festgehalten hat. Mußte man sich nicht manchmal den Hals verdrehen, wenn man früher durch die Straßen ging und die Firmen an derselben Seite, wo man ging, studieren wollte?
So hatte der Gasthof „Zum weißen Roß“ in schmiedeeisernem Kranze einen feurigen Schimmel als Wirtshauszeichen über der Tür; beim Schuhwarengeschäft von Unger hing an der Ecke ein mächtiger Stiefel mit der Inschrift „Dr. Lahmann“. Im Stadthaus am Greifenhagenplatz, wo die Hebamme zu wohnen pflegte, sah ich einen Storch mit einem Wickelkind im Schnabel und die Firma weithin sichtbar: „Verladebüro der A.-G.m.b.H. Storch & Co.“ Gegenüber aber ein leckeres Aushängeschild: eine Riesenapfelsine, umgeben von großen Weintrauben und Bananen. Dazu das Firmenschild „Südfruchtgeschäft von Lui Raffke. Weil Lui, so war der eigentliche Familienname, sehr gern ein Skätchen spielte und das Geld – (er gewann jedes Spiel) – triumphierend mit den Worten einstrich: Immer reiraffe, immer reiraffe! so hatten ihn seine Freunde wohl mehr scherzhaft Raffke genannt. Einen Blick hinunter nach dem Beutengraben, der selbstverständlich seinen Namen behalten hatte, und man bemerkte am Zahnhäusel über der Tür wieder ein solch treffliches Aushängeschild: eine Krück gekreuzt von einem riesigen Advokatenfederhalter und oben darüber in sanft geschwungenem Bogen die vier Skatwenzel. Dort sei, so ließ ich mir sagen, die Nachhilfeschule für zurückgebliebene Skatspieler, eine Tochteranstalt von der berühmten Skathochschule in Geringswalde.
Vom Hause des Wötzel-Bäck lächelte ein Dreierbrötchen in idealer Größe herüber – – kurzum, das Herz hüpfte vor Freude, zu sehen, welch ein feiner Sinn in der Einwohnerschaft rege sein mußte, der das Alltägliche mit dem zauberischen Hauche der Poesie zu umweben versteht.
Abseits vom großen Strom der Menge nahm ich meinen Weg weiter über den Kirchplatz nach der Schulgasse. An diesem Namen war nichts geändert worden, ebensowenig an der alten Bezeichnung Mühlgasse. Beide Namen erzählen ja ein Stück Stadtgeschichte, der letztere, daß hier schon im frühesten Mittelalter „des Rates Obermühle“ klapperte, der erstere, daß hier vor Errichtung des Zentralschulgebäudes ein bescheidener Schulbau stand, in dem jetzt, wie ich im Vorbeigehen bemerkte, die Volkshochschule, die städtische Lesehalle, der Kinderhort und die öffentliche Bücherei untergebracht waren. Das Stück Weg vom John-Glaser an bis hinunter an die Brücke über die Rote Pfütze hatte man aber umgetauft. Hier stand „Am Pförtlein“. Auch das fand ich wieder ganz ausgezeichnet. An dieser Stelle ging nämlich eine kleine Pforte durch die Stadtmauer. Durch diese Pforte drangen 1429 die fanatischen Hussiten in die Stadt ein und brachten jene große Trübsal, die in der Geschichte unserer Stadt nicht wieder ihresgleichen hat. So ist der Name „Am Pförtlein“ ein Denkmal an einen Schreckenstag der Heimat. Solche Namen sind es, die den Vorzug verdienen vor jenen Straßen- und Wegbezeichnungen, die wohl einem vorübergehenden, flüchtigen Ereignisse Rechnung tragen wollen, die mit den tieferen Belangen der Heimatscholle aber nichts zu tun haben.
Das Straßenstück von C. H. Starke an bis zur Bachbrücke nannte man jetzt „Am Elterleiner Tor“ und die Häusergruppe drüben über der Roten Pfütze hatte nun endlich von Amts wegen den Namen Bins erhalten. Eine Braugasse gab es auch noch, allein man begriff darunter jetzt den ehemaligen Einenkelweg, der bei der Löffler-Bodenburgfabrik (Liebschtmühle) links abzweigt. Man erzählte mir, daß draußen hinter dem Schützenhaus eine neue große Brauerei entstanden sei, an der Stelle, wo 1646 der schwedische General Wrangel mit seinem Stabe und einer Anzahl Regimentern sein Lager aufgeschlagen hatte und „im Grunde bei den Teichen“ jenen köstlichen Kühl- und Labebrunnen entdeckte, der den Herren nach einer „schweren Nacht in Annaberg“ sehr gelegen kam. Das Bier, das diese „Wrangel-Brauerei“ ausstieß, war weit und breit berühmt; es stand im Geschmack und der Bekömmlichkeit dem feinsten Pilsner um nichts nach, so daß Schlettau als Brauereistadt wieder so bekannt und berühmt war wie im 13. und 14. Jahrhundert, wo man im ganzen erzgebirgischen Kreise nur Schlettauer Bier trank.
Von der Bins führt mich der Weg weiter den Bach entlang. Der kleine idyllische Verbindungsweg nach der ehemaligen Talstraße hinüber war auf der Wiesenseite mit Strauchwerk bepflanzt; man hatte ihn Schloßsteig genannt. Bald stand ich vor dem Paradies, jenem Wäldchen, das man zu meiner Zeit als Naumannwäldchen ansprach. Ich fragte ein süßes Kind, das an mir vorüberging, wie man auf die Bezeichnung Paradies verfallen konnte? Das Fräulein lächelte verschmitzt und ließ mich stehen. Eine Wegtafel „Sankt Michaelis“ zeigte den Berg hinauf. Auf der Höhe, wo einst die Bergleute nach den Schätzen der Erde gruben und wo noch spärliche Haldenreste des Sankt-Michaelis-Stollen liegen, war eine schmucke Häuserkolonie entstanden. Hier wohnte die Beamtenschaft der Erzgebirgischen Maschinenfabrik. Die Fabrik selbst hatte sich nach dem alten Hermannsdorfer Weg weit hinaus ausgedehnt. Die Arbeiter hausten in einer behaglich-friedlichen Siedelung hinter den Binsscheunen bis hin zum „Salzweg“ (äußere Elterleiner Straße). Dieses Arbeiterviertel – auch das fand ich recht pietätvoll – hieß „In den Karlhäusern“ – zum bleibenden Gedächtnis an den Begründer der Erzgebirgischen Maschinenfabrik Hauptmann Karl Naumann. Wohl der Stadt, die ihre verdienstvollen Bürger auf solche Weise unsterblich macht!
Die Talstraße hatte ihren nicht sehr viel besagenden Namen auch hergeben müssen. Die neue Bezeichnung „In der Aue“ fand ich tatsächlich auch viel treffender und um ein gutes Stück stimmungsvoller.
Als ich an die Zschopaubrücke kam, zog gerade der Festzug an mir vorüber. Rasch entschlossen schob ich mich in eine Gruppe von Leuten hinein, die wie ich mit verwunderten Augen in der Gegend herumtasteten. Es waren Heimatfestgäste aus Amerika, von denen manche vor 50 bis 60 Jahren die Schläte verlassen hatten und noch nie wieder dahin zurückgekehrt waren. Sie konnten sich nicht satt tun in der Verwunderung über den nie geahnten Aufstieg ihrer alten, lieben Vaterstadt.
Wir bogen in die Rathenaustraße ein. So viel ich auch suchte, ich fand den Namen an keiner Wegtafel mehr. Der Weg, an dessen linker Seite eine Reihe stattlicher Neubauten grüßte, hieß jetzt „Am Heldenhain“. Auf der rechten Seite war ein überwältigend schöner Stadtpark entstanden, künstlerisch in der ganzen Anlage – ich konnte mich nicht entsinnen, irgendwo etwas Aehnliches gesehen zu haben. In der Mitte glänzte ein Teich, und daraus erhob sich eine Insel, aus der eine wuchtige Steinpyramide herausragte. Es war das Ehrenmal für Schlettaus Helden aus größter Zeit. Die Musik schwieg, als wir hier vorüberzogen; wir entblößten alle das Haupt, und ein heiliger Odem strich über den Festzug, der erst wieder verflog, als die Kapellen einhellig „Ich hatt‘ einen Kameraden“ intonierten.
Nun gings durch die „Kleine Sehma“ hinaus „Zum Reichen Spat“. Draußen in den Schrebergärten, wo vor 600 Jahren Caspar von Schönburg die ergiebige Fundgrube „Zum reichen Spat“ erschlossen hatte, lag jetzt eine liebliche Gartenvorstadt. Schmucke Holzblockhäuser, so ein Stückchen Voralpenlandschaft, lagen regellos verstreut an der sanften Berglehne. Das große Gebäude in der Mitte der Anlage war das Altenheim, das die Stadt für ihre Alters- und Invalidenrentner erbaut hatte.
Vom Reichen Spat führte die Straße in leichtem Bogen hinüber nach der „Tunnelschänke“. Bei Neukirchners, später Tauschers Gasthaus an der Einmündung der Zschöppelstraße in die „Böhmische Straße“ lag jetzt die Einfahrt in den großen Tunnel, den man durch den Berg für die Annaberger Linie gestochen hatte. Seitdem sich der Schnellzugsverkehr auf dieser Strecke so ungemein gesteigert hatte, war der Verkehr über den Einschnitt an der Schwedenfichte nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das Gasthaus stand dicht neben dem Bahnhof Vorstadt Walthersdorf. Jawohl! Walthersdorf war längst schon nach Schlettau einverleibt. Die Häuser beider Orte waren nach und nach so nahe aneinandergerückt – sowohl an der „Böhmischen Straße“ als auch drüben am Kirchsteig – daß wie von selbst eine Ortsgemeinschaft entstehen mußte.
Vom Kirchsteig herüber grüßte wieder eine freundliche Häuserkolonie. „Dort wohnen die Hänelarbeiter“, lasse ich mir erzählen. Der obere Teil des Häuserviertels führt den Namen „Im Rosenbusch“, nach dem Stollen genannt, der in der Zeit des Bergbaues dort befahren wurde. Der untere Teil aber hieß „Münchhausen“. Dort wurden die Riesenkohlrabi und Riesenmöhren gebaut, die mitunter das Gleichgewicht der Erde bedrohten. Jetzt wurde mir auch der Anschlag an der Litfaßsäule verständlich, wo Arbeiter mit Hebebaum und Flaschenzug für die Mohrrübenernte gesucht wurden. Neugierig war ich doch, was aus dem Restaurant „Zum Zschopautal“ geworden war. Die urgemütliche trauliche Kneipe, in der ich so manches liebe Mal mit guten Freunden gesessen, stand noch wie Anno 1925. Aber ein anderes Schild hatte sie herausgehängt. „Gerichtsschänke“ las ich. Und das hatte seinen triftigen Grund. Auf den Schmiedelfeldern hinter der Eisenbahn, rechts von Münchhausen, erhob sich ein stolzer Bau. Schlettau war Amtsgerichtsstadt geworden. Man hatte das Gerichtsgebäude ungefähr an derselben Stelle erbaut, wo im Mittelalter der Schlettauer Galgen stand, das Gericht, wie es noch auf der Matthias Oederschen Landkarte aus dem 17. Jahrhundert genannt wird.
Der Festzug ging unaufhaltsam weiter. Man fand nicht Zeit, sich mit seinen Gedanken abzufinden. Ich fragte meinen Nebenmann: „Haben Sie noch Angehörige in der alten Heimat? Wo haben Sie für die Festtage ein Unterkommen gefunden?“ „Meine Eltern wohnen in der „Siedelei“, wir werden gleich dort vorbeikommen.“ Den ganzen Flächenraum zwischen Böhmischer Straße und Kleinen Sehma und Reichem Spat fand ich mit Häusern des Siedlervereins bebaut. Eine Straße schlängelte sich quer durch die Anlage bis hinüber zum Heldenhain. Jedes Häuschen hatte ein gut gepflegtes Gärtchen, aus allen Fenstern lachte die Freude an der Scholle. Es war ein über die Maßen wohltuender Eindruck, den die Siedelei machte.
Ich tauschte meine Gedanken über das Siedlerproblem mit meinem Nachbar aus, und so kamen wir unbemerkt wieder nach dem inneren Städtchen, so wie ich es vor Menschengedenken gekannt hatte. Die Häuser waren prächtig geschmückt. Die Fensterstöcke glühten in allen Blumenfarben, Wimpel und Fahnen flatterten im Winde, Girlanden und duftige Ranken waren über die Straßen gespannt. Die Häuser suchten sich zu überbieten; es war auch nicht ein Fenster, aus dem nicht die Freude am Heimatfest herausgelacht hätte. Aus dem lieblichen Grün der Kränze und Ranken ragten nun wieder die Hauszeichen und Aushängeschilder, die Handwerkszeichen und Sinnbilder hervor, die der Straßenzeile eine so packende Melodie geben. Beim Schelligböttcher hing ein Faß über der Werkstatt, beim Bitterlich das Handwerkszeug des Maurers, beim Hildebrand und Beckert die Insignien des Rauchers: Zigarren, Pfeife und Ulmer, beim Ottschneider verriet eine Schere den rührigen Meister, der Schröcktischler hatte über der Tür Hobel und Winkelmaß, aber auch der Humor war zu seinem Rechte gekommen. An einem in lauter „Grün“ getauchtem Haus war eine Zicke als Wappenschild zu sehen, der man den Kopf abgehackt hatte. Zicke – Kopf weg, bleibt Icke, dachte ich, und ich hatte sofort des Rätsels Lösung gefunden. Daß der Arnoldschmied ein Hufeisen am Hause angebracht hatte, erschien mir als selbstverständlich; im Vorbeimarsch las ich noch, daß der alte Gasthof „Zum weißen Roß“ auch noch das „Dreimädelhaus“ genannt wurde.
Wir näherten uns nun dem alten Stadtkern. Eine mächtige Ehrenpforte zwischen Uhlig- und Wötzelbäck‘, die eine getreuliche Nachbildung des „Böhmischen Stadttores“ sein sollte, mußte durchschritten werden. Dann aber hatte man den Blick auf das alte vertraute Stadtbild, das kein Schlettauer je vergessen wird. Die beiden Häuserzeilen mit den charakteristischen Walmdächern standen noch wie ehedem, aber an den Häuserfronten hatte sich manches einem besseren Geschmacke angepaßt. Zunächst – doch das war eigentlich selbstverständlich – hatten alle Hausbesitzer, wo es wirklich not tat, zum Heimatfeste ihr Häusel frisch anstreichen lassen. Das Städtel sah wunderbar neuwaschen aus. Dazu die Blumenpracht und die leuchtenden Farben der neuen Fahnen und Flaggen. Mich interessierte aber viel mehr der bleibende Schmuck der Häuser, der der Stadt auch ein festliches Gepräge gibt, wenn die eigentlichen Festtage verrauscht sein werden. Ich meine wieder das Gehänge an den Häusern, die Embleme und dazu die neckischen Hausinschriften, die einer Straße, einem Marktplatz einen ganz eigenartigen Reiz verleihen können. Ein Blick durch die Ehrenpforte und ich glaube mich wirklich nach Rothenburg a. d. Tauber versetzt. Heil, mein liebes Schlettau, daß ich dich so wiederfinden darf!
Schon beim Uhlig-Hermann ein überraschend schönes Aushängeschild. In einem eisernen Reifen, um den sich südländische Gewürzpflanzen ranken, steht eine zum Anbeißen niedliche Mohrin inmitten von Kaffee- und Tabakballen, beim Schmiedelfleischer reitet ein Metzger mit gezücktem Messer auf einer dahinrasenden Sau, ganz ähnliche Handwerkerembleme bei Dünnebier und den Kunzmännern und bei Schreiter und Koch. Das Café-Monopol hat erfreulicherweise seine fremdländische Bezeichnung aufgegeben. Es heißt jetzt Kaffeehaus Max. Man sieht es schon am spaßigen Wirtshausschilde. Die bekannte Max-Figur von Wilhelm Busch aus Max und Moritz ziert den Eingang und hat sicherlich eine viel stärkere Anziehungskraft als der einstmalige fremde Name „Café Monopol“.
Der Wolfsattler lenkt durch einen Pferdekopf mit Kummet, Sattel und Peitsche die Aufmerksamkeit auf sein Geschäft; etwas ähnliches war übrigens schon bei Steinbach zu sehen gewesen.
Ein zartes Gebind hochstämmiger Petersilie über dem geschmackvoll aufgeputzten Schaufenster der Obst-Groß- und Feinkosthandlung von Albin Panhans nimmt sich ebenso gut aus wie gegenüber bei Weinhold das letztere Stilleben: ein Tablett mit Butter, Eiern, Käse u. dergl. Beim Kunzmann-Fleischer hängt in der zweiten oberen Fensterreihe ein mächtiger Mammunzahn herab – wer kann hier anders wohnen als der Zahnkünstler des Ortes? Ich betone es immer wieder, diese Hausschilder haben eine ungemein stärkere Kraft zur Kundenwerbung als die matten Firmen, die nur zu leicht übersehen werden. So auch die geschickte Nachbildung des bekannten Denkmals Augusts des Starken beim Oeser-Reinhard, wie prächtig wirkt es! Und wie bezeichnend ist dann wieder beim Bartl-Emil die auffällige Inschrift Finanzamt. Ich habe im Vorbeiziehen gewiß nicht alles erhaschen können, was des Erwähnens wert gewesen wäre, jedenfalls lasteten aber die vielen Eindrücke so schwer auf meinem Gemüt, daß ich mich aus dem Festzug herausmachte und Zuflucht im Gasthaus „Zum groben Traugott“ suchte, das die Räumlichkeiten des ehemaligen Rathauses einnahm. Der ganze städtische Betrieb und Verwaltungsapparat war schon seit vielen, vielen Jahren nach dem Schlosse verlegt worden. Einige stilgerechte Anbauten hatten dort die einzelnen Aemter: Sparkasse, Girokasse, Steueramt, die Sitzungszimmer usw. aufgenommen. Der alte Schloßbau war im Erdgeschoß in einen Schloßkeller umgewandelt worden, der Ahnensaal aber und der Rittersaal zur Besichtigung freigegeben. Ein reich beschicktes, raffiniert ausgestattetes Heimatmuseum füllte den oberen Saal im Schloßbau, das eine Sehenswürdigkeit des ganzen oberen Erzgebirges bildete. Ich habe mir erzählen lassen, daß Sonn- und Festtags die Automobile und Flugzeuge und Luftschiffe ungeheure Mengen von Besuchern nach Schlettau brächten, daß die Reichsbahn allsonntäglich regelmäßig Extrazüge nach Schlettau verkehren ließ, um den riesigen Andrang bewältigen zu können. Das Schönste war jedoch der Park mit seinen gärtnerischen Kunstanlagen und den wunderbaren Wasserkünsten. Es war vorauszusehen, daß Schlettau durch diese neuen Errungenschaften auch ein vielbesuchter Sommerfrischenort werden würde, deshalb war gerade der Schloßkeller auch für starken Hotelbetrieb eingerichtet.
Im Gasthaus „Zum groben Traugott“ hatte ich mich in ein stilles Winkelchen zurückgezogen. Der Wirt schien gar keine Notiz von mir zu nehmen. Als ich mich etwas unwillig rührte und fragte, ob man denn hier überhaupt bedient würde, sagte mir der freundliche Herr Gastwirt: „Nur hübsch warten, ich habe ooch warten müssen, bis Sie gekommen sind.“ Der Mann hat eigentlich recht, dachte ich bei mir, und ich nahm ihm die höfliche Begrüßung nicht weiter übel. Als ich aber bei dem Wirte ein Glas Milch bestellte, fuhr mich der Herr entrüstet an und fauchte wie eine Kreuzotter: „Hier ist doch keine Säuglingskneipe! Sauft nur Bier! Settigs Bier wie in der Schläte habt Ihr auf Eurer Kuhbläcke nich!“
„Nun gut, bringen Sie mir ein Glas Schlettauer Wrangelbräu!“ Während der wunderliche Kauz nach der Bierausgabe „ferzelte“, überlegte ich mir die tiefere Bedeutung des Gasthausnamens, und ich fand, daß tatsächlich kein anderer Name die Sache so gut traf wie der „Grobe Traugott“.
Das Bier sah wirklich vortrefflich aus. Ich setzte es an, ich trank es aus, o Trank voll süßer Labe! „Heil, Schlettau!“, so fuhr es mir ganz unwillkürlich von den Lippen, und da kam es mir in den Sinn, wie von der Heimat immer neue Kräfte der Anregung ausgehen, und wie einer, der den Heimatboden unter seinen Füßen spürt, wieder aufwacht aus Verdrießlichkeit und weltschmerzlicher Stimmung. Und wenn ich mir weiter die unendlich vielen Eindrücke vor die Erinnerung stellte, die heute beim Besuche in der alten lieben Heimat auf mich eingestürmt waren, dann fand ich es sehr gut gesagt, wenn da jüngst einer schrieb: „Heimatgeschichte ist kein Trümmerplatz, an dem wir klagen und Tränen vergießen sollen, Heimatgeschichte ist ein Bauplatz, auf dem sich heimatliches Neuland aufbauen soll.“ In diesem Sinne die, liebe alte Bergstadt, ein herzliches Glückauf!
Schlettauer Heimatblätter. 1. Jahrgang, Nr. 4 v. 23. Dezember 1925, S. 5 – 11