Von Wald und Wild in der Heimat vergangenen Tagen.
Von Lehrer H. Dietrich.
Winterliches Demantgefunkel deckt wieder einmal den heimatlichen Forst. Ehrfurchtsvoll neigen die stolzen Tannen und Fichten ihre schwerbeladenen Zweige vor des Winters grimmiger Majestät!
Ist er nicht auch in diesem glitzernden schneeichten Gewande unbeschreiblich reizvoll, unser lieber Heimatwald? Ein Zufluchtsort für jeden, der einmal für Stunden dem Lärm des Alltags fliehen, für Stunden seine Sorgen vergessen will!
Und doch hat er sein Antlitz recht verändert im Laufe der Jahrhunderte, dieser Heimatforst. Lichter ist er geworden und friedlicher. Recht wenig ist übrig geblieben von dem unwegsamen Urwalde, der vor zehn, ja noch vor fünf Jahrhunderten die hiesige Gegend bedeckte, wie ein breiter grüner Rahmen das ganze Böhmerland umzog und nach Norden, höchstens von Heiden und Sumpf unterbrochen, bis in die Rochlitzer und Waldheimer Gegend gereicht haben soll. „Miriquidi“ nennen ihn die ältesten Chronisten wohl mit einem alten slawischen Namen. Kärgliche Reste sind geblieben von dieser ehemaligen grünen Herrlichkeit, und abgesehen von den ausgedehnten Crottendorfer und Geyerschen Revieren ist unsere engere Heimat recht waldarm geworden. Die menschliche Kultur hat den Wald aufgezehrt wie die Frühlingssonne die Schneedecke!
Nach den Rodungen der ersten deutschen Kolonisten war vor allem der Bergmann ein arger Feind des Waldes. Mit dem Rechte der „Bergfreiheit“, das der Staat unseren aufblühenden Bergstädten verlieh, gestattete er ihnen, den Wald in ihrem Flurbereich abzuholzen. Im Gefolge des Bergbaues haben dann Hüttenwerke und Hammerschmiede unserem Walde recht böse zugesetzt, so daß die damaligen Besitzer unserer Gegenden, die Herren von Schönburg, ein Verbot erließen, frisches Holz für den Hüttenbetrieb zu schlagen.
Raubbau ist also an unserem Walde getrieben worden, ohne Rücksicht auf zukünftige Zeiten, und die Naturgewalten haben durch riesige Waldbrände das ihre beigetragen zum Vernichtungswerke. Eines recht absonderlichen Waldverderbers soll aber doch noch gedacht werden, weil seine Waldfeindlichkeit wohl manchem Leser ein ungläubiges Kopfschütteln abnötigen wird: es ist die Ziege! Der bäuerliche Kleinbetrieb, der schon im Mittelalter für unsere Heimatgaue charakteristisch war, brachte es mit sich, daß die Ziegenzucht in hoher Blüte stand. Man ließ diese Tiere ganz allgemein im Walde grasen, wobei es sich herausstellte, daß besagte Wesen leider wenig Verständnis zeigten für die Schönheit unserer Wälder und manches Jungbäumchen ihrem Magen einverleibten! Da wurde es der Hohen kurfürstlichen Obrigkeit zu toll, und sie verbot kurzerhand Mitte des 17. Jahrhunderts das Halten von Ziegen im Erzgebirge: … weil sie alles beschnopperten und den jungen Wald nicht aufkommen ließen …[1]
Ueberhaupt danken wir mehreren sächsischen Kurfürsten viel zur Erhaltung unserer Wälder. Vater August erließ 1560 eine Holzordnung, auf Grund deren zur Ueberwachung der Forsten und der Wildbahn besondere „Wäldner“, eine Art Revierförster, angestellt wurden. Im Jahre 1697 folgte eine weitere Forstordnung, die das Kohlenbrennen einschränkte und das Decken der Dächer mit Schindeln verbot. So blieben doch noch ansehnliche Teile des ehemaligen Riesenurwaldes bis Ende des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts erhalten. – Wenn ich eingangs sagte, unser Wald sei friedlicher geworden, so geschah dies in Hinblick auf das Wild, das in jenen verflossenen Jahrhunderten unsere Forsten unsicher machte. Ihr unheimlichster Bewohner aus dem Geschlechte der Raubtiere war zweifellos Meister Petz, der braune Bär!
Im dichten Gestrüpp des Waldes und in felsigen Höhlen fand er genügend Unterschlupf, und hat sich daher bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts in unseren Gegenden erhalten. Sein Gebiß weist ihn als einen Allesfresser aus, und neben Fleischkost werden ihm wohl auch der Beerenreichtum und die früher hier recht verbreitete Bienenzucht willkommen gewesen sein. Der verdienstvolle Scheibenberger Pfarrer Christian Lehmann (1611 – 1688), der uns in seinem „Historischen Schauplatz“ ein recht anschauliches Bild der Vergangenheit unserer Heimat entwirft, berichtet eine Fülle von Bärengeschichten, die von der Häufigkeit dieses Zottelrockes Zeugnis ablegen, und von denen einige hier folgen mögen:
Bei Grumbach veranstaltete Herzog Moritz von Sachsen 1542 einen Bärenhetze, wobei er auch glücklich drei dieser Tiere erlegte. Er war über dieses Jagdglück so erfreut, daß er den Bauern und Bergleuten einige Fässer Freibier spendierte, worüber diese sicher nicht böse waren! – Als im Jahre 1640 die Annaberger vor den Schweden fliehen mußten, wurde ein 12jähriges Mädchen von einem Bären zerrissen. Ein Wäldner aus Waschleithe wurde von einem Bären angefallen und erkletterte einen Baum. Dabei glitt er ab und stürzte wieder hinunter. Zu seinem Glück war aber der Bär durch das Krachen und Brechen der Aeste derart erschrocken, daß er sich aus dem Staube machte. Mit dem Schrecken kam auch ein biederer Scheibenberger Bauersmann davon, der im Scheibenberger Walde über einen dort schlummernden Bären purzelte. Auch hier scheint das Tier mehr erschrocken zu sein als sein Ruhestörer und entfernte sich schleunigst. Zahlreich sind die Fälle, in denen nach Lehmanns Bericht die braunen Unholde Beerensucher ihrer ganzen Ernte beraubten, während sie diesen selbst kein Leid zufügten. Ueberaus mordlustig scheinen diese Bestien demnach nicht gewesen zu sein.
Die häufigen Kriegsläufte im Gebirge, besonders der 30jährige Krieg, waren nicht nur dem Ueberhandnehmen des Bären ungünstig, sie ließen einen viel dreisteren Räuber beinahe zur Landplage werden: den Wolf.
Endlos sind die Klagen, die man in den alten Chroniken über ihn liest. Die aus Böhmen zurückkehrenden Truppen des schwedischen Generals Banner, die mit Mord und Plünderung das „schwedische Elend“ über unsere arme Heimat verbreiteten, waren gefolgt von ganzen Rudeln von Wölfen. Was von Verwundeten und Pferden hinter den Marschkolonnen zurückblieb, fiel den heißhungrigen Bestien zum Opfer. So sollen sie zwischen Schlettau und Elterlein drei Soldatenpferde gefressen haben. 1645 hütete ein Knabe bei Elterlein eine Herde Kühe und Ziegen. Plötzlich brachen am hellen Tage sechs Wölfe in die Herde ein und schleppten den Hirtenknaben und eine Ziege fort. Erntearbeiter kamen dem Knaben zu Hilfe und entrissen den Bestien ihre Beute. Ein anderer Wolf verfolgte einen Fleischer, der Kälber nach Johanngeorgenstadt trieb, bis in die Stadt hinein und riß, da ihm der Ueberfall auf den Fleischer nicht glückte, einen Knaben nieder. Einen Frohnauer Bergmann rettete nach Lehmanns Bericht nur sein gläubiges Gebet und die in den Händen emporgehaltene Grubenleuchte davor, von 9 hungrigen Wölfen zerfleischt zu werden.
Großen Schaden im Wildbestand richteten Luchs und Wildkatze an. Beide lauerten auf Bäumen oder im Dickicht in der Nähe der Wildwechsel, um dem vorüberziehenden Wilde anzuspringen. Die Wildkatze unterschied sich durch Größe und stämmigeren Körperbau, vor allem aber durch einen buschigen, braun und schwarz geringelten Schwanz von der Hauskatze. Der Luchs, der eine Länge von 1 Meter erreichen kann, ist ziemlich hochbeinig und trägt auf den Ohren lange schwarze Haarpinsel.
Vom Ur– oder Auerochs, dem Wildrind, der wohl schon im 16. Jahrhundert in Deutschland ausgerottet wurde, wahrscheinlich aber auch unser Erzgebirge bewohnt hat, liegen uns wenig Zeugnisse vor. –
Wenn der Mond über den Hochwald emporstieg und gigantische Schatten auf den Boden warf, wenn die Eule mit Geisterruf auf dem Astknorren aufhakte, dann ging ein Knacken und Brechen durch die Dickung. Hinaus auf die Waldblößen und Triften zogen dann ganze Rudel edlen Rotwildes zur Aesung. Von ihm unterschied sich das Damwild durch geringere Größe und das breite schaufelförmige Geweih. In der Suhle, im Moorgrund wühlten schmatzend und pustend die wilden Sauen, und das „Gewehr“ der Keiler, ihre mächtigen Eckzähne, blitzten im Mondlichte. Unser „Saubad“ bezeichnet noch heute einen ihrer ehemaligen Aufenthaltsorte, und im Schlettauer Forst hatten 1595 die kurfürstlichen Jäger besonderes Weidmannsheil! Sie spürten dort nämlich ein „Hauptschwein“ auf, einen mächtigen 7jährigen Eber, der sich wütend zur Wehr setzte und zehn Hunde verwundete. Dann flüchtete das grimmige Borstentier ins Stockholz, und erst bei Eibenstock konnte man es zur Strecke bringen! 6½ Zentner wog der Koloß! Unheimlich hallte zur Brunstzeit der nächtliche Forst wieder vom Kampfgeschrei der edlen Hirsche. Wild krachten die Geweihe der Kämpen aufeinander, mit gesträubtem Halshaar und weit aufgerissenen „Lichtern“ fochten sie um den Besitz der „Tiere“, bis das Blut des zu Tode Geforkelten die Heide noch röter färbte.
Wenn aber Morgendämmerung die Schatten der Nacht verdrängte, dann flog der Auerhahn polternd zum Morgenmahle in die taufeuchten Beerensträucher. – Zeiten mögen das gewesen sein, die das Herz des Weidmannes höher schlagen ließen, denn die Wildbahn wies kapitale Hirsche von mehr als 16 Geweihenden und 7 – 8 Zentnern Gewicht auf! Die Bauern und Häusler freilich hatten für solche Weidmannsfreuden wenig Verständnis. Wir können es ihnen nicht übel nehmen, denn oft genug fielen trotz Wachtfeuer und Trommellärm ganze Scharen von Rot- und Schwarzwild in die Feldmarken ein, ernteten, wo sie nicht gesät hatten und brachten den Landmann um all die Früchte seines Fleißes. Drei Jahre lang trieben um 1638 drei starke Hirsche auch auf Schlettauer Flur ihr saatenverheerendes Unwesen. Mit ganz erklärlicher Freude berichtet der Chronist, daß der stärkste dieses diebischen Kleeblattes beim Sprung über ein Wildgatter den Hals gebrochen und ein anderer tot im Walde aufgefunden wurde! Auch in einem Bericht von 1696 wird neben Mißwachs infolge Hochwassers über großen Wildschaden geklagt. Die Forstbehörde, die den Wildbestand für die kurfürstlichen Jagden hegte, schenkte den Klagen der Landleute kein Gehör. Der Chronist berichtet beispielsweise voller Entrüstung, daß ein Bauer in Grünau gezwungen wurde, seinen Backofen niederzureißen, den er mit Hafer zum Dörren gefüllt, versehentlich aber offen gelassen hatte. Es war nämlich in der Nacht ein starker Hirsch mit dem Kopf in den Ofen gefahren, um den Hafer zu fressen, konnte aber mit seinem Geweih nicht wieder heraus. Ein anderer Bauer mußte sogar seinen Kornspeicher zersägen, um einen Spitzbuben gleicher Art ungestraft zu befreien, auf daß „er fernerhin dem armen Untertan Schaden zufügen könnte!“[2] Recht viel mußte sich im Jahre 1659 auch der Ortsrichter von Walthersdorf von einem Hirsche gefallen lassen, den die Dorfhunde mitten im Dorfe gestellt hatten. Der Ortsrichter wollte ihn verscheuchen, wurde aber von dem Tier aufs Geweih genommen und in den Bach geworfen!
Was Wunder, wenn die Wilddieberei überhand nahm, trotzdem die Wäldner für jeden erschossenen und aufgehängten Wilddieb eine Prämie von 40 bis 80 Talern erhielten. – Kurfürst Johann Georg I. war ein leidenschaftlicher Jäger. Gar manches Mal mag während seiner Regierungszeit (1611 – 1656) der Heimatwald erklungen haben vom Knallen der Büchsen, vom lustigen Klange der Jagdhörner und vom Gekläff und Gebell der Hundemeute! So geschah es auch am 27. Juni 1625, als der Schlettauer Forst vom Kurfürsten und seinen Jägern umstellt wurde. Der hohe Herr erlegte im Stockholz drei Hirsche und zwischen Walthersdorf und Crottendorf vier weitere, deren einer 7 Zentner 20 Pfund wog, also ein kapitales Tier gewesen sein muß! Auf grünem Rasen wurde ein Jagdessen veranstaltet, wobei ihm der Rat von Scheibenberg zwei Flaschen Wein und Kuchen überreichen ließ, wovon er drei Bissen aß! Das süße Backwerk aber, welches Schlettauer und Scheibenberger Bürgersfrauen spendeten, schickte er nach Geyer zu seiner Gemahlin.
Es ist uns ein Bericht überliefert mit den Ergebnissen der Jagden an denen genannter Kurfürst persönlich teilnahm. – In diesem Jagdbericht spiegelt sich so recht der Wildreichtum unserer Wälder zu jener Zeit wieder, und es mögen deshalb hier einige Zahlen daraus folgen: Es wurden insgesamt erlegt: 15 228 Hirsche, 1887 Spießhirsche (Junghirsche), 15 399 Stück Wild (Hirschkühe), 385 Damhirsche, 379 Stück Damwild, 1869 Rehböcke, 8167 Rehe, 3207 hauende Schweine (5jähriges männliches Wildschwein), 2850 Keiler (2 – 3jähriges männliches Wildschwein), 9478 Bachen (weibliches Wildschwein), 13 068 Frischlinge (Jungschweine), 203 Bären, 3543 Wölfe, 200 Luchse, 11 811 Hasen, 18 957 Füchse, 922 Dachse, 37 Biber, 149 Wildkatzen.
Die Liste enthält außerdem noch Igel, Marder, Wiesel, Fischottern und Hamster und zählt im ganzen 113 629 Stück Wild auf – wohlgemerkt nur Tiere, die auf Jagden unter Anwesenheit des Kurfürsten in unseren Wäldern erlegt wurden! Füge ich nun noch ergänzend hinzu, daß Mitte des 17. Jahrhunderts bei Stollberg und Satzung je ein Steinadler erlegt wurde, so kann man sich eine Vorstellung machen von der Vielgestaltigkeit, der großen Arten- und Stückzahl der heimischen jagdbaren Tierwelt verflossener Jahrhunderte.
Und heute? – Wie allerorten, so hat sich eben leider auch hier eine traurige Naturerfahrung geltend gemacht: Gerade die schönsten und stattlichsten Erscheinungen der jetzt lebenden Tierwelt finden keinen Platz mehr in unserer Gegenwart mit ihrer die Welt beherrschenden Technik und sind alle dem Untergange geweiht, sofern sie der Mensch nicht als Haustier in seinen Schutz nimmt! – Hat so auch unser Wald viel von seiner wilden Romantik eingebüßt – dem, der die Sprache der Natur zu deuten versteht, bietet er auch heute noch eine Fülle des Wundersamen und des Erbaulichen!
[1] Siehe Nestler: „Das Zschopautal.”
[2] Siehe Hering: „Geschichte des Sächsischen Hochlandes”.
Schlettauer Heimatblätter. 1. Jahrgang, Nr. 5 v. 15. Januar 1926, S. 8 – 10