Eigentlich sollte heuer ein Schulfest abgehalten werden. Es hatte sich vor dem Kriege ein Gebrauch herausgebildet, wonach aller vier Jahre ein Schulfest vom Stapel lief. Während des Krieges war natürlich dieser Turnus nicht mehr innegehalten worden, aber bald nach Friedensschluß haben wir es wieder gewagt. 1921 ist hier ein recht gut gelungenes Schulfest gefeiert worden. Wenn man nun in diesem Jahre von der Abhaltung eines Schulfestes abgesehen hat, so geschah das in Ausblick auf das große Schul- und Kinderfest, das im nächsten Jahre in Verbindung mit dem Heimatfeste abgehalten werden soll. Auch der Umstand, daß heuer die Feste „nicht abgerissen haben“, ließ eine Vertagung der Schulfestfrage als berechtigt erscheinen.
Um unseren Schulkindern aber einen Ersatz zu bieten, beschlossen die städtischen Körperschaften, die Mittel für eine Schulfahrt nach dem zoologischen Garten in Chemnitz bereit zu stellen. Es war erfreulich, zu sehen, wie einmütig man den Wert einer solchen Schulreise anerkannte und ohne weiteres die immerhin bedeutenden Kosten auf die Stadtkasse übernahm. An der Fahrt nahmen die Kinder vom dritten Schuljahr an teil – insgesamt 286 Knaben und Mädchen. Die Kinder hatten freie Eisenbahnfahrten und freien Eintritt in den Tiergarten. Daß wir auch eine starke Beteiligung aus dem Elternhause haben würden, war von vornherein klar, und so trugen wir uns ursprünglich mit der Absicht, einen Extrazug bei der Reichsbahn zu beantragen. Wir erreichten aber die tarifmäßig vorgesehenen, zu einem Sonderzug ausreichenden Fahrkarten nicht, aber wir sind dennoch „sehr gut gefahren“. Unsere Herren von der Bahnverwaltung hatten in bekannter Liebenswürdigkeit alles in die Wege geleitet, um die Schwierigkeiten eines solchen großen Kindertransportes auf das Mindestmaß zu beschränken. Es waren für unsere Zwecke 8 Sonderwagen bereit gestellt, die sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückfahrt an den Umsteigeplätzen umrangiert wurden, so daß wir uns tatsächlich beinahe wie in einem Extrazuge sitzend fühlten. Wenn eins nicht klappen wollte, so war es – wie das ja leider bei fast allen diesjährigen Veranstaltungen der Fall gewesen ist – das Wetter. Während der Eisenbahnfahrt schlugen dicke Regentropfen an die Fensterscheiben, aber ich hörte aus den Wagen die Kinderlust ungebrochen hervorklingen, und auch bei den großen Leuten soll es sehr angeregt und kreuzfidel zugegangen sein. (Es hatten sich an die hundert Väter und Mütter der Schulfahrt angeschlossen.)
Der Chemnitzer Zoo, eine Zweigniederlassung des Leipziger Tiergartens, ist zwar erst in seiner Entwicklung begriffen. Wer größere Gärten dieser Art gesehen hat, ist für den ersten Augenblick vielleicht etwas enttäuscht, aber bei näherem Zusehen findet er bald, daß einige Abteilungen schon ganz vortrefflich ausgebaut sind. Mit steigender Bewunderung haben wir die Kinder namentlich durch das Aquarium schreiten sehen. Das ist unstreitig vorderhand das Prachtstück der Chemnitzer Tierschau. Jedoch auch das andere Tiermaterial ist gut ausgewählt, wenn vorläufig auch noch so einige Zugnummern fehlen mögen. Viel Interesse erweckten die beiden Seelöwen, die Mantelpaviane mit ihren Kletterkünsten in der grotesken Felsenlandschaft; auch der Löwenzwinger ist eine Anlage, die den Kindern Bewunderung abgerungen hat. Daß die Affen ihre Anziehungskraft nicht verfehlten, ist wohl beinahe selbstverständlich, allein auch an den Vogelkäfigen sind Knaben und Mädchen gern stehen geblieben. Mit wie viel mehr Freude hätte man das alles genießen können, wenn es nicht so novemberlich kalt und „eirisch“ gewesen wäre! Unter der Ungunst der Witterung litt natürlich auch die Sonderschau „Ceylon“. Die Direktion des Zoo hat sich mit der Herbeiziehung dieser Singhalesen-Truppe ein großes Verdienst erworben. Großstädter haben ja öfters Gelegenheit, solche ethnographische Wanderausstellungen zu sehen, aber wer etwas abseits vom großen Strome der Ereignisse und Begebenheiten wohnt, der begrüßt es mit doppelter Freude, wenn ihm in der Nähe einmal derartige hochinteressante Vorführungen zugänglich gemacht werden.
Es hatte einen eigenen Reiz, diese fremden Volkstypen, die sich hier ganz so geben wie in ihrer äquatorialen Heimat, in allen ihren Lebensgewohnheiten beobachten zu können. Die Kleidung, die im täglichen Gebrauch an Einfachheit und Ursprünglichkeit nichts zu wünschen übrig läßt, bei festlichen Gelegenheiten aber, bei Tanz und Umzügen phantastisch-märchenhafte Formen annimmt, die Sitten und Gebräuche bei den Mahlzeiten, die Handwerker: Töpfer, Holzdrechsler, die Teppichflechterinnen und Spitzenklöpplerinnen, alle konnte man sehen, als wenn man durch Ceylons gottgesegnete Auen schritt. Haben doch diese Singhalesen ein richtiges heimisches Dorf hier in den Chemnitzer Zoo verpflanzt. Was wir den Schulkindern so oft erzählt haben, daß sich diese Leute ihre Hütten vom Grunde bis zum Dachfirst aus den verschiedenen Teilen der Kokospalme aufbauen, hier konnten sie es in natura sehen, viel besser als auf den schönsten Anschauungsbildern, die wir ihnen im Unterricht zeigen können. Wir konnten dann weiter diese Leute als Zauberer bewundern, und sie ließen uns auch Blicke tun in ihre religiösen Zeremonien, in indischen Geisterspuk und Götzenkult. Für unsere Knaben und Mädels waren selbstredend die Elefanten, die die Singhalesen mitgebracht hatten, die Hauptsache. Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß der Jugend immer das Riesenhafte am meisten Ehrfurcht und Bewunderung abzwingt, aber man konnte hier auch bei den Großen sehen, daß sie wie elektrisiert waren, als auf einmal der Ruf erschallte: „Itze komm `se, de Elefanten!“ Daß einige beherzte Schlettauer Jungens einen Ritt auf den Dickhäutern wagten, war vorauszusehen, wer kannte in dieser Hinsicht unsere Draufgänger nicht!
Jedenfalls war der unterrichtliche Ertrag dieser Schulreise ein außerordentlich großer, und wenn dann eine Nachbehandlung der in Chemnitz gesammelten Eindrücke im Schulunterricht einsetzt, dann werden unsere Kinder von dem Gesehenen auf lange Zeit hinaus geistig beeinflußt bleiben und werden denen im stillen dankbar bleiben, die ihnen eine solche Fahrt ermöglicht haben. Es war diese Chemnitzfahrt für unsere Schulkinder ganz gewiß auch ein Schulfest, und sie würden noch viel mehr davon gehabt haben, wenn eben das Wetter nicht gar so unfreundlich sich benommen hätte. Wir wollten den Knaben und Mädchen gern auch das Großstadtleben und den Betrieb in solchen Metropolen des Verkehrs zeigen. Wie viele von den Schlettauer Kindern waren noch nie in einer Großstadt gewesen. Nun konnten wir unsere Schüler nur einen flüchtigen Blick in das Großstadtgetriebe tun lassen, aber wir zweifeln nicht, daß es ein guter Anschauungsunterricht gewesen ist, der manche Vorstellungen in der Kindesseele berichtigt und ergänzt haben wird.
Als der Zug abends ¾ 10 auf dem Schlettauer Bahnhof einrollte, und eine dichtgedrängte Schar von Vätern, Müttern und Geschwistern unsere Zoofahrer empfing, da konnte man von den strahlenden Gesichtern der Kinder das Bekenntnis ablesen: „Wir haben etwas erlebt, und das war schön!“
Schuldirektor P. Thomas.
Schlettauer Heimatblätter. 1. Jahrgang, Nr. 1 v. 15. September 1925, S. 6 – 7