Eine wenig bekannte Schlettauer Sage, von Oberlehrer Gustav Röhling-Schlettau.
Nördlich des Schlettauer Stadtwaldes, dort, wo die Scheibenberger Höhe allmählich sich hinuntersenkt ins Tal der Roten Pfütze, breiten sich die allen Schlettauern bekannten Heiden aus. Nahe des Waldes sind die wenig ergiebigen Heideflächen mit Fichten und zu deren Schutz gegen Spätfröste, die den jungen Trieb schonungslos vernichten, auch mit Kiefern bepflanzt worden. Benachbarte Flächen, wo vor wenigen Jahren der in unserer Gegend immer seltener werdende Kiebitz noch brütete, harren noch der Aufforstung.
Magst Du nun, liebe Leserin oder lieber Leser, Deinen Weg nach den Heiden durch den Stadtwald einschlagen oder den vom Verschönerungs- und Erzgebirgsverein in den ersten Kriegsjahren als Notstandsarbeit angelegten einsamen Pfad durch die Kiefern nehmen, magst Du vom „Krummen Weg“ oder auf dem neubenannten „Nach den Heiden“ herkommen, auf jeden Fall gelangst Du in den Bereich der „Haadnmale“. Erstaunt wirst Du jetzt fragen: Wer ist das? J, wenig bekannt ist diese Sage, und doch hat man sie erzählt; woher sollte sie d. V. sonst kennen? Er hat sie Euch Schlettauern abgelauscht.
Stand er da vor Jahren in der Wartehalle des Bahnhofs und beobachtete das Leben und Treiben daselbst. An der Sperre waltete Wilhelm Kreißel seines Amtes als Fahrkartenkontrolleur. Schon längst deckt ihn der grüne Rasen. Augenblicklich hatte er Ruhe und lehnte, wohl über seine Beförderung zum Oberbahnsteigschaffner nachsinnend, doch ab und zu auch einen Blick in die Halle werfend, an seinem Stand; denn der „Schwarzenberger“ war noch nicht einmal in Hörweite, geschweige denn in Sicht. In der Halle saßen und standen die Fahrgäste, teils schweigend, teils sich lebhaft unterhaltend, und erwarteten sehnlichst den Zug — genau wie heutzutage. Unter dem reiselustigen Völklein war auch eine junge Frau mit zwei Kinderchen, einem lebhaften Mädchen und einem drolligen Jungen. Dem Mädchen behagte das lange Warten keinesfalls, und es mochte nicht recht begreifen, daß ein Eisenbahnzug sich auch verspäten kann, und daß der Fahrgast, wenn er mitgenommen sein will, geduldig ausharren muß. Fortwährend lag es der Mutter in den Ohren mit seinem „Kimmt dä dr Zug noch net ball?“, lief immer und immer wieder zum Ausgang nach dem Bahnsteig und hielt Ausschau. Schließlich machte es seiner Ungeduld durch Weinen und Schreien Luft. Dem Manne an der Sperre konnte das nicht einerlei sein, wollte er doch Ruhe in seiner Bahnhofshalle haben. Mit gestrenger Amtsmiene sah er zu der heulenden Kleinen hin und sagte: „Wenn de net geleich stiller bist, kimmt de „Haadnmale“ aus´n Wald un nimmt dich miet!“ Ob das Kind sich durch die ihm unbekannte „Haadnmale“ hat einschüchtern und beruhigen lassen, ist dem Gedächtnis d. V. entfallen. Aber eins hat er damals erfahren und ist ihm unvergeßlich geblieben: die „Haadnmale“ ein Schreckmittel für unartige Kinder.
Ein andermal wanderte er dem Stadtwalde zu. Es war an einem recht unfreundlichen Sommertage. Dunkel und schwer hastende Wolken jagten am Himmel hin. Drunten in der Talsenkung der Roten Pfütze brauten die Nebel, und hinten in den Heiden wallten weißgraue Schwaden hin und her. Mit der Sense auf der Schulter kommt aus seinen Feldern ein biederer Schlettauer daher — der Bock-Clemens, Gott hab ihn selig! „Bei dan Watter wöll´n Se in Wald? Heit is fei net schie haußen. Heit könne Se sich leicht verlaafen. Sanne Se när emol hinner in de Haadn, de „Haadnmale“ hot heit gruße Wäsch!“
Wenn große Wäsche ist im Haus, da hat die liebe Hausfrau nicht die rosigste Laune, und überall ist es naß, ja, man wird oft selbst mit naß. Und in den Heiden bei der „Male“ ist es keinen Deut anders. Wenn die Nebelfetzen, d. i. ihre Wäsche, fliegen, in tausend wechselnden Gestalten sich zusammenballen und wieder verwehen, da fehlt es da draußen nicht an Feuchtigkeit, die der Wald- und Heidegeher zu spüren bekommt am ganzen Körper, von der Sohle bis zum Scheitel. Und die üble Laune der „Male“ läßt den Störenfried, der ahnungslos in ihre Waschküche eindringt, in boshafter Weise oftmals einen Irrweg gehen. Die „Haadnmale“ ist zum andern dem Waldwanderer eine Warnerin vor dem Nebel.
Wie mag nun die Sage von der „Haadnmale“ entstanden sein? Auch hier hat sich die dichtende Phantasie des Volkes — wie bei den allermeisten Sagen — einer historischen Tatsache bemächtigt. Die Tochter eines Schlettauer Heidebesitzers, mag sie Amalie geheißen haben, soll selbst beim Heuwenden draußen in der Heide Handschuhe getragen haben. Ob aus Vorsicht, sich die Hände nicht zu verletzen, oder aus Eitelkeit, das mag dahingestellt sein. Jedenfalls erregte sie aber durch ihre wunderliche Angewohnheit die Spottlust der Schlettauer Jugend, und oft kam es vor, daß ihr, wenn sie ins Feld ging, eine Rotte johlender und spottender Kinder nachzog. Dann aber geriet sie in hellen Zorn, wandte sich um und fuhr mit dem Rechen unter die gottlose Schar, so daß sie kreischend auseinanderfuhr und den Rückzug antrat. Deshalb gilt die „Haadnmale“ wohl heute noch als Schreckgespenst für unartige Kinder. Gesehen hat sie der Schreiber dieses noch nie. Andere sind da freilich glücklicher gewesen. Sie haben sie im roten Boyrock auf dem Grenzstein sitzen und dann auf der „Roten Halde“ verschwinden sehen. Soweit das von Schlettauern Erlauschte.
Warum auch sollte Schlettau keine „Haadnmale“ haben? Hat doch, wie uns Dr. Köhler in seinem Sagenbuche berichtet, Scheibenberg sein Heideweibchen. Es heißt da in dem Buche: „Zwischen Scheibenberg und Crottendorf liegt eine sumpfige Gegend, welche die Heide genannt wird. Daselbst geht zu bestimmten Zeiten das Heideweibchen um.“ Und in den Schlettauer Heiden spukt eben die „Haadnmale“. —
Mit dieser Sage, die nach Dr. Köhler als Dämonensage aufzufassen ist, ist der Schlettauer Sagenstoff nunmehr erschöpft. Die Sage vom Jäger ohne Kopf im Hofbusch bei Schlettau, wie auch die vom „Unrichtigsein“ im Saubad, gehören zu den Sagen von Spukgeistern und Gespenstern. Als Schatzsage gilt die Sage von der vergrabenen Braupfanne im Ullrichwäldchen. Es ist die Pfanne, nach der unser fleißiger Mitarbeiter an den „Schlettauer Heimatblättern“, Herr Karl Wendler, heute noch sucht. (Siehe „De Sog vun dan silbern Holzschpä“ in Nr. 3, 2. Jahrg.) Sagen, die von den beiden Steinkreuzen bei Schlettau erzählt werden, bezeichnet unser Gewährsmann Dr. Köhler als Ortssagen. Eine gewisse Berechtigung, auch die Sage vom Zwergenloch im Scheibenberg oder vom Zwergenkönig Oronomossan, als Schlettauer Sage anzusprechen, ist gegeben, insofern es ein armes Mädchen aus Schlettau war, das für sein Mitleid vom Zwergenkönig mit einem großen Klumpen gediegenen Silbers belohnt wurde. Die schönste und wohl bekannteste Schlettauer Sage aber ist die Wundersage vom Mönchsgesicht an der Schlettauer Kirche. Wie viele Erwachsene und Kinder, einheimische und fremde, mögen wohl schon vor dem kleinen Steingesicht gestanden und aufmerksam den Worten eines Erzählers gelauscht haben! Ja, es ist so, wie der Dichter Bechstein spricht:
„Die Sage wandelt sinnend durchs Land von Ort zu Ort
Und pflanzt in ihrem Garten der Dichtung Blumen fort.
Sie flüstert in Ruinen, sie lauscht am Felsenhang,
In Hainen rauscht ihr Flüstern wie ferner Harfenklang.
Sie schwebt um stolze Burgen, sie weilt beim Halmendach,
Sie thront auf Felsenstein, sie spielt am Waldesbach.
Sie hat sich mit dem Lande so liebendtreu vermählt,
Daß sie fast aller Orten von alter Zeit erzählt.“
Schlettauer Heimatblätter. 2. Jahrgang, Nr. 9 v. 18. Mai 1927, S. 3 – 4.