Plaudereien aus Schlettaus Vergangenheit von Paul Thomas.
Durch die Bins zur Finkenburg.
So, jetzt kommen wir nach der Binsenvorstadt von Schlettau, bedeutete ich meinem Besuche, als wir die Brücke über die Rote Pfütze beim Zahnhäusel überschritten hatten und den Stadtteil mit den niedlichen kleinen Häusern vor uns hatten. Ja, was denkst Du, die Binsulaner da draußen sind stolz auf ihre ortspolitische Selbständigkeit. Die Rote Pfütze macht einen auffallenden Strich zwischen Stadtkern und der Bins, wie die trauliche Häusergruppe kurz im Volksmunde genannt wird. Sie haben da draußen auch ihren eigenen „Bürgermeister“, werden aber von der Stadt aus mit Gaslicht in Strümpfen und vorzüglichem Leitungswasser reichlich versorgt.
Du befindest Dich hier auf einem durch lange Historie geweihten Boden. Der Name Bins hält ein gut Stück Erinnerung fest aus Schlettaus ältester Vergangenheit. Das Vorstädtchen verdankt seinen Namen den Binsen, jenen scharfrandigen Gräsern, die in Sümpfen und sauren Wiesen bodenständig sind und mit Rietgräsern, Wollgras, Läusekraut u. a. das Pflanzenkleid solcher Luchlandschaften bilden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Schlettau ja in seinen allerersten Anfängen mitten in solchem Moorgrund entstanden. Das und nichts anderes will der Name „Schlettau“ besagen, obgleich verschiedene Sprachforscher andere Wortableitungen für recht und billig erachten wollen.
Von den saueren Wiesen merkst Du freilich heute in der Bins nicht mehr viel. Zähe, arbeitsame Bauernfäuste haben den Boden veredelt und saatreif oder doch wenigstens für einen halbwegs guten Grasschnitt erträglich gemacht. Aber die Binsenleute haben keine Veranlassung, den Namen ihrer Vorstadt abzuändern. Bins bleibt Bins, das ist hier die Parole, und Du solltest nur einmal so einen ganz echten Bins’ner sehen, wenn er mit dem Brustton der Ueberzeugung für die Belange seiner Vorstadt eintritt. Von jeher bilden die Binsenmänner im Stadtgemeinderate eine eigene Fraktion, die in allen lebenswichtigen Vorstadtfragen politisch neutral ist und es versteht, alle drohenden Benachteiligungen durch mannhaftes Eintreten für den Fortschritt der ihnen ans Herz gewachsenen Vorstadt „abzuwendlern“.
Und da merkt man die Wahrheit des Wortes wieder, daß ein Mensch das Produkt seiner Scholle ist, denn wenn es manchmal doch nicht ganz nach dem Kopfe der guten Leute gehen will, dann kannst Du auch saure Gesichter sehen, und wenn Du die Leutchens etwas unvorsichtig anfaßt, dann wirst Du Dich auch in die Finger schneiden gerade wie bei den scharfrandigen Gräsern der Binsenwiesen.
Unter solchen Unterhaltungen waren wir über dem Körnerplatz am Denkmal vorbeigekommen und hatten den Zugang zur alten Elterleiner Straße gefunden. Die Julihitze lag drückend auf der Straße, als wir uns durch den Hohlweg vorschoben und schweißtriefend endlich die Höhe erreichten, auf der links von dem Wege – bei Meßpunkt 634 – 1911 zum letzten großen Manöver König Friedrich August mit seinem Stabe hielt.
Ein Lauseberg, so seufzte mein Begleiter, der auch annähernd 2 Zentner den Berg hinaufgeschleppt hatte, indem er sich Tropfen sauren Schweißes von der Denkerstirne wischte. Du hast recht, tröstete ich meinen nach Luft schnappenden Reisegefährten, im Herzensgrunde aber machte es mir Vergnügen, zu beobachten, daß ich dem guten Freunde ein kleines Würmchen abgetrieben hatte. Warum kommt Ihr ins Gebirge – dachte ich bei mir – sollt auch etwas davon spüren.
Also der Berg heißt wirklich der Lauseberg; die meisten Schlettauer wissen ihn aber nicht so zu benennen. Der Name hat sich hier niemals einbürgern wollen; er war unseren feinfühligen Stadtleuten zu kitzlig, und der Schlettauer juckt sich nicht gern. Allein, Du darfst Dich von dem Namen der Anhöhe nicht irreführen lassen; mit Läusen hat der Name durchaus nichts zu tun. Wenn Dir allerdings jetzt beim Heraufklettern eine Laus über die Leber gelaufen ist, dann schiebe, Freundchen, dieses Ungezieferchen nicht etwa unserem Lauseberge in die Schuhe. In dem Namen Lauseberg liegt vielmehr eine slavische Sprachwurzel verborgen. Lause ist zurückzuführen auf das tschechische „louze“ oder auf das wendische „luza“, das soviel wie Wiesenbruch, Grassumpf bedeutet. Gerade die Straße, auf der wir uns befinden, stand ehemals stark unter tschechischem Einfluß; es ist die uralte Verkehrsstraße, auf der sich der ganze Verkehr und Handel zwischen Mitteldeutschland und Böhmen bewegte, die Straße, auf der die Hallischen Salzfuhrleute das ursprünglichste Frachtgut, das Salz, über das Gebirge nach Böhmen beförderten, der Weg auch, auf dem dann später die Grünhainer Klosterleute nach dem Erzpriesterstuhl Kaaden und dem Bistum Prag ihre Beziehungen aufrecht erhielten. Wenn Du eine Landkarte mit der Brille des Sprachforschers aufmerksam studierst, dann wirst Du finden, daß dieser Weg mit slavischen Namen wie gepflastert ist. In diese Wortreihe gehört ja auch der Name Schlettau, und wir werden bei unseren Spaziergängen noch auf so manche Bezeichnung stoßen, die in derselben Linie liegt.
Der Name Lauseberg charakterisiert treffend auch das Landschaftsbild, das ehedem hier vorherrschend gewesen ist: Sumpf, Moor, Wiesenbruch, saure Wiesen, Moräste. Nun wirst Du wohl fragen, wie der alte Name „Luza“ so ver“lausen“ konnte? Hier spiegelt sich ein gut Stück deutschen Sprachlebens und „webens“ wieder. Im Alt- und Mittelhochdeutschland gab es in der Sprache noch kein „au“. Unser Neuhochdeutsches au ist hervorgewachsen aus einem althochdeutschem u oder ou. So hieß „Maus“ ehemals „mus“, „Haus“ „hus“, „Baum“ früher „boum“, und denselben Weg ist nun auch das Wort luza gegangen, das sich uns heute in der nicht gerade leckeren Aufmachung von „Laus“ präsentiert.
Darf ich Dich hierbei noch auf eine kleine Sprachfeinheit aufmerksam machen? Die Au-Wörter, welche aus einem ehemaligen ou entstanden sind, entwerten wir im erzgebirgischen Dialekt zu einem a. Wir sagen für Baum Bam, für Auge Ag. Der Volksmund im Niederland hat dafür die Formen Boom, Ooge usw. Die erzgebirgische Zunge bringt es dagegen nicht fertig, ein au, das aus einem mittelhochdeutschem u hervorgegangen ist, wie a auszusprechen. Haus bleibt auch in der erzgebirgischen Gassensprache Haus. Aus Haus – Haas, aus Maus – Maas, aus Laus – Laas zu machen, das widerstrebt einfach dem Sprechorganismus der deutschen Zunge. Wer solche Dinge beobachtet und darüber nachdenkt, dem wird es klar, daß auch die Sprache ein Stück Natur ist, die nach ewig unwandelbaren Gesetzen ihr Dasein behauptet.
Unter solchen Gesprächen waren wir bis zum Stockholz vorgedrungen. „Wer hat dich, du schöner Wald aufgebaut so hoch da droben?“, so schmetterte auf einmal mein Begleiter los, dem beim Anblick der mächtigen Fichtenbestände wohler um’s Herz geworden war. Und der Erzgebirgler singt das tiefempfundene Lied unseres Anton Günther „Wu de Walder hamlich rauschen“, und die Stimmung ist da, die wir beim Betreten solch herrlicher Gotteserde vonnöten haben.
Da ich meinem aufnahmefreudigen Wandergefährten mit den kleinen Weganmerkungen bisher nicht auf die Nerven gefallen war, fuhr ich kühn in meinen Fremdenführerkünsten fort. „Wie der Wald zu dem Namen „Stockholz“ kommt, kann man mit einiger Bestimmtheit nicht mehr angeben. Der stattliche Bestand gehörte bis vor 50 Jahren der Stadt Schlettau. Das Kloster Grünhain hatte ihn einst der Gemeinde geschenkt als Ersatz für die verlorengegangenen Weideplätze am Schottenberge, die Schlettau 1521 hatte abtreten müssen zum Baugrund der Nachbarstadt Buchholz. Bis zur Mitte des Waldes reichte im frühesten Mittelalter das Königreich Böhmen. In der Stiftungsurkunde des Klosters Grünhain 1236 ist die Astgrenze des Klostergebietes bis hierher gezogen. Es heißt dort: „in mediam silvam, qua Boemia limitatur“, d.h. bis zur Mitte des Waldes, der die Grenze Böhmens bildet.
Gott sei Dank! Endlich ein Wirtshaus! ließ sich mein Freund vernehmen, als wir – – die Sonne meinte es wirklich zu gut heute – – nach fünfviertelstündigem Marsche endlich vor der Finkenburg standen und uns anschickten, im luftigen Gartenhäuschen des traulichen Gasthauses zu Rast und Erquickung Platz zu nehmen. Während wir uns ein Gütliches taten bei einem Glase frischen Bieres und der weithin berühmten Finkenburg-Käse-Bemme, fiel der Blick meines Tischgenossen auf die Gedenktafel, die in der Sommerlaube dort hängt, auf der ein Dichter versucht hat, die Sage poetisch zu verherrlichen, der das Gasthaus seinen Namen verdanken soll. Ursprünglich hieß das Häuschen „Funkenburg“. Abt Johannes 4. von Grünhain, Funk genannt, war ein leidenschaftlicher Jäger. Er jagte besonders gern in den Wäldern um Elterlein, am Bärenstein und in der „Hohen Tanne“ (neben dem Hofbusch gegenüber von Brückners Holzschleiferei). Dieses Häuschen hier war eine seiner beliebtesten Jagdhütten. Man nannte sie darum die Funkenburg. Der Sage nach ist Abt Johannes auch nach aufregendem Jagdzuge in diesem Häuschen gestorben. Während er mit dem Tode rang, soll ein Finkenpärchen in die Jagdhütte geflogen sein, das den Sterbenden mit seinem süßen Gezwitscher wundersam berührte. Da hat dann der „wilde Jäger“ – so nannte man den abenteuerlustigen Abt – im Sterben noch bestimmt, daß hinfort seine Jagdhütte die Finkenburg genannt werde.
Diese poetische Verklärung des Namens Finkenburg hält jedoch vor den strengen Untersuchungen des Geschichts- und Landschaftsforschers nicht stand. Der Name Funkenburg, der zweifellos der ursprüngliche war, kennzeichnet vielmehr die ganze Anlage als eine Lichtsignalstation an dem bereits mehrfach erwähnten uralten Handelswege. Hier beim Uebergang über die Rote Pfütze hatte die Salzstraße die gefährlichste Stelle zu überwinden. Sie zog sich an dieser Stelle durch ein ziemlich ausgedehntes Wiesenmoor und war vermutlich mit einem starken Knüppeldamm befestigt, um für die schweren Lastfuhrwerke einen halbwegs fahrbaren Untergrund zu schaffen. Wenn ein alter Chronist schreibt, „daß die große Straße aus dem Land der Thüringer und sächsischen Hartz an sumpfigen Stellen mit Hölzern überbrückt ist“, so möchte man fast annehmen, daß Albinus den Uebergang über die Moorgründe bei der Roten Pfütze im Sinne gehabt hat. Da mag besonders das Reisen zur Nachtzeit seine schweren Gefahren gehabt haben. Ein Abkommen vom Wege war für den Fußwanderer, aber noch vielmehr für die Fuhrwerke eine ganz bedenkliche Geschichte. Man findet es deshalb verständlich, wenn die alten Wegebauer an solchen heiklen Punkten Anlagen errichteten, von denen aus durch Lichtsignale die Kärrner gewarnt werden konnten. So kehrt meines Wissens der Name Funkenburg in Sachsen mehrfach an solchen alten Straßenzügen wieder. Diese alten Funkenburgen hatten also zu Lande dieselbe Aufgabe zu erfüllen wie heute die Leuchttürme zur See.
Das Wiesenmoor an der Finkenburg ist übrigens auch heute noch schwer zugänglich. Der Pflanzenfreund, der hier etwa seine botanischen Studien treiben will, versinkt oft tief in dem „saftigen“ Boden. Aber es ist eine ganz charakteristische Flora, die sich dem Kenner hier auftut, ein Pflanzenleben, das ihm umsomehr Beachtung abnötigt, wenn er den beharrlichen Kampf zu beobachten versteht, den die Pflanzenwelt auf dem Moorboden zu ihrer Erhaltung durchzuführen hat.
Doch davon ein andermal!
(Fortsetzung folgt.)
Schlettauer Heimatblätter. 1. Jahrgang, Nr. 1 v. 15. September 1925, S. 3 – 5